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Vipassana in Thailand. Oder: Der Der Guru nimmt mir meine Träume

Ich thronte auf meinem Meditationskissen, hochmotiviert die Beine zum Lotussitz verschränkt. Dann begann er zu singen – und mit einem Schlag war’s mit den guten Vorsätzen vorbei: Ich wollte auf der Stelle abhauen. 

DAS sollte ich mir zehn Tage lang anhören? Diese Gejaule?! Satya Narayan Goenka, der indische Meditations-Guru, klang so gar nicht nach Ohm Shanti. Sein Gesang hatte eher was von einem wehmütigen, alten Seemann, der ein Schnapsfass ausgetrunken hatte und auf der Suche nach neuem Fusel war. Worte endeten in einem röchelndem Gurgeln. Und kaum dachte man, jetzt ist es vorbei, jetzt ist er endlich eingeschlafen, setze er zu einer neuen Strophe an. Wo zum Teufel war ich da reingeraten? 

Ich war ich einer Art Sekte, geführt von einem toten Mann, der nicht singen konnte.

Von außen betrachtet könnte man sagen: Ich war in einer Art Sekte, geführt von einem kugelbauchigen, toten Mann, der nicht singen konnte: S.N. Goenka, ein weltweit respektierter Vipassana-Lehrer, war nämlich bereits 2013, mit 89 Lebensjahren, ins Nirwana vorausgegangen. Und weil er offenbar zu Lebzeiten ziemlich super war, hat man nach seinem Abgang nie einen Nachfolger gesucht. Also unterrichtet der Inder mit dem freundlichen, runden Gesicht und den schelmischen Augen seitdem posthum mit Hilfe alter Audio- und Videoaufzeichnungen.

Jedenfalls: In Goenkas Vipassana-Meditationszentrum, sechs Stunden westlich von Bangkok, gibt man sich tolerant. Als Schüler muss man keine weiße Kleidung tragen. Das tun nur Goenkas Assistenzlehrer, die stumm wie Playmobilfiguren auf „Play“ drücken, wenn der Meister sprechen soll. Aber der Rest hatte durchaus was von dem, wovor mich meine Oma immer warnte: Freundliche, dauerlächelnde Menschen reichten mir gleich nach Ankunft ein Formular, auf dem ich mich einverstanden erklären sollte, meinen freien Willen für zehn Tage an der Haustür abzugeben und mich den strengen Regeln des Hauses und des toten Lehrers zu unterwerfen.

Es gab wenig, was man durfte. Die Lehre anzweifeln durfte man jedenfalls schon mal nicht.

Da stand was von …

… Ich gelobe, zehn Tage zu schweigen, demütig zu Boden zu schauen und dabei jeden Augenkontakt mit anderen Teilnehmern zu meiden. (Ideal, mit dem Schweigegelübde ist auch gleich etwaig aufkeimende Kritik ausgehebelt).

… Smartphone, Laptop, Bücher oder sonstige Schriften sind bei der Leitung des Zentrums abzugeben. 

… Ich werde Goenkas Lehren nicht anzweifeln – zumindest nicht für die Dauer des Aufenthalts.

…Ich verpflichte mich, ausschließlich jene Nahrung zu mir zu nehmen, die mir vorgesetzt wird.
(Ich dachte an den Zehnerpack Duplo in meiner Tasche – ein Abschiedsgeschenk der beängstigend klugen Schwester –, und war nicht willens, diese eiserne Schokoreserve kampflos abzugeben. Sollten sie mich doch raushauen, ha!). 

… Ebenfalls Tabu: Sport, Dehnen oder Stretching, egal, wie sehr der Rücken schmerzt.

… Ich verspreche, um 4:30 Uhr morgens aufzustehen und elf Stunden pro Tag zu meditieren.

… Ich nehme zur Kenntnis, dass Baden und Duschen nur zu speziell festgelegten Zeiten gestattet ist, um die anderen Teilnehmer nicht zu stören.

… Ich verpflichte mich, nicht durchzudrehen, keine Psychopharmaka oder psychotrophen Substanzen zu nehmen und die vollen zehn Tage zu bleiben.

Warum zur Hölle habe ich im Vipassana-Kurs eingecheckt?

Was soll ich sagen? Ich habe den Wisch einfach unterschrieben, ohne groß nachzudenken. Bei offiziellen Regelwerken handhabe ich das meistens so. Das mag naiv sein, aber über die Auswirkungen mancher Klauseln mache ich mir lieber dann Sorgen, wenn sie eintreten. Zumal beim Vipassana-Seminar das mit den Sorgen kontraproduktiv gewesen wäre, immerhin peilte ich ja geistige Entspannung an. Wobei: Hätte ich mich vorher eingelesen, hätte ich es besser gewusst. Ursprünglich dachte ich ja, Vipassana wäre ein stinknormaler Meditationskurs, einer, der halt zehn Tage dauert. Ich hatte mal ein drei-Tages-Seminar besucht, ich mochte es. Jetzt, wo ich Zeit im Überfluss hatte, war ich bereit für mehr. Ich hatte keine Ahnung. 

Bei Vipassana wird der Atem zur Fahrkarte durch deinen Körper.

Bei Vipassana geht’s nämlich nicht darum, den Atem kontrolliert zu beruhigen oder negative Gedanken in positive Bahnen zu lenken. Es geht tiefer. Du sollst lernen, mit Hilfe deines Atems winzige Regungen und kleinste Vibrationen in deinem Körper wahrzunehmen. Weil jedem Gefühlsausbruch immer auch eine körperliche Reaktion vorausgeht. Und nur wer diese Körperimpulse erkennt und kontrolliert, kann mit Wut, Begierde, Ablehnung umgehen lernen und wieder ausgeglichen schwingen. Du operierst quasi in deinem Unterbewusstsein herum, da, wo es weh tut, ohne Narkose und bei vollem Bewusstsein. „Schaut dem natürlichen Fluss eures Atems zu“, instruierte Goenka. „Ist er schnell und flach? Dann belasst ihn schnell und flach. Wertet nicht, kontrolliert nicht, träumt nicht, nehmt die Realität so an, wie sie ist.“

„Start again“, sagte Goenka nach einer Stunde. „Nehmt die rosarote Brille ab. Wertet nicht. Bleibt neutral. Greift nicht ein. Start again, start again, start again“. Soweit die Kurzversion.

Ich war neidisch auf die alte Oma, die einen Stuhl zum Sitzen bekommen hatte.

Die Langversion war brutal und von Wut, Frust, eingeschlafenen Beinen, Rückenschmerzen und 74 „Mitgefangenen“ begleitet: 22 Männer und 52 Frauen hatten sich im Meditationszentrum in der thailändischen Provinz Kanchanaburi eingefunden. Backpacker aus allen Teilen der Welt und allen Altersklassen waren dabei. Leute, die wie Finanzberater und Marketing-Manager aussahen. Eine anorektische Asia-Barbie mit Dior-Schlappen, Louis-Vuitton-Pashmina und erdbeerblond gebleichten Rapunzel-Haaren. Viele Thais. Einige Vietnamesen. Eine humpelnde Oma, die 100 hätte sein könnte, aber vielleicht war sie auch nur 70 Jahre alt ist. Sie hatte kein Sitzkissen am Boden, sondern einen Stuhl. Ich war vom ersten Moment an neidisch auf die alte Dame. 

Should I stay or should run?

Vipassana bedeutet: Du machst dich auf den Weg zu deinem Unterbewusstsein.

Namen wurden abgeschafft, jeder bekam eine Nummer zugeteilt, die auf die jeweiligen Sitzkissen geheftet wurde. Ich war nicht mehr Waltraud, sondern Nummer 37. Die Frau mit der Nummer 13, die ihre kurzen Stirnfransen mit einem Gummiband zu einer lustigen Palme hochgebunden hatte, lief offenbar in ihrer Freizeit gerne Marathon. Zumindest verrieten das die Aufdrucke auf ihren T-Shirts. „Laufen für die Erhaltung des Waldes“ stand da etwa auf ihrem Rücken, „Run to London“. „Halb-Marathon für die HIV-Forschung“. Ich musste innerlich grinsen. Sie lief und lief und lief und lief. Für das Seelenheil gab es keinen Lauf. Dafür hieß es stillsitzen. Auch wenn die Arschbacken schmerzten. 

An alles kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, die zehn Tage waren sehr, sehr lang. Und die Revoluzzerin in mir reduzierte die täglichen elf Stunden Meditationszeit – indem ich um 4:30 Uhr früh nicht in der abgedunkelten Meditationshalle auftauchte, wo die Ventilatoren unermüdlich gegen die tropische Hitze surrten. Ich zog es vor, im Bett liegen zu bleiben. Bis 6:30 Uhr stand „freie Meditation“ am Plan, das hieß, man durfte auf seinem Zimmer bleiben. Doch Goenkas Helfer hatten vorgebaut: Sie beschallten sie das Areal mit Guru-Gesängen. Es gab Lautsprecher in jedem Baum. Ich mochte zwar beschlossen haben, im Bett zu bleiben, doch schlafen konnte ich deshalb noch lange nicht.

Ich zog es vor, im Bett liegen zu bleiben. Doch Goenkas Helfer hatten vorgebaut: Es gab Lautsprecher in jedem Baum.

An Tag 1 plante ich zum ersten Mal die Flucht. Doch wie wie käme ich zurück nach Bangkok? Der Gruppenbus war weg, der würde erst in zehn Tagen wieder aufkreuzen. Ich beschloss, dass die Sache organisatorisch zu aufwändig war und ergab mich.  

An Tag 2 schmerzte alles. Das Ego. Das Steißbein. Der Rücken. Der Kopf. Ich war wütend auf mich, aufs Leben, auf Goenka und verlangte, eine der Helferinnen zu sprechen, wild entschlossen, jetzt und auf der Stelle abzureisen. „Willst du vielleicht einen Stuhl für deinen Rücken?“, fragte diese überraschend kooperativ. Ich nickte stupide, und wurde neben die Oma gesetzt.   

An Tag 3: Neid! Ein Sitzkissen im Männertrakt blieb leer, einem der Teilnehmern schien tatsächlich gestern Nacht der Check-out gelungen zu sein. Der Typ – grau-melierte Haare, dick gerahmte Werber-Brille – hatte sich offenbar vom Angebot eines rückenfreundlichen Stuhls nicht einlullen lassen. Start again. Start again. Start again. Ich blickte auf meine nackten Füße. Und beschloss, ab sofort, die gepflegtesten Zehennägel der Welt zur Schau zu tragen. Gleich anschließend, in der Pause auf meinem Zimmer, würde ich mit der Pediküre beginnen. Ich hatte ja sonst nichts zu tun. Fuck.

Ich musste über Prince Harry nachdenken. Und irgendwann sah ich aus wie Charlize Theron in „Monster“, meiner luftgetrockneten Naturkrause sei Dank.

Tag 4: Ich sollte meditieren, musste aber den halben Vormittag über die britischen Royals nachdenken. Fast schon obsessiv. Wie sich Prince Harry wohl als Vater machte? Und ob Prince Charles und Camilla wohl immer noch versauten Telefonsex hatten und nett zu Harry waren? Zumindest Goenka wartete mit einer neuen Botschaft auf. Wir durften beginnen, die Körperteile im Kopf zu scannen, wir sollten nach Regungen im Inneren Ausschau halten. Mittendrin schlief ich ein, mein Kopf fiel nach vorne auf meinen Brustkorb. Die Oma am Nebenstuhl ignorierte mich regelkonform.

Tag 5: Wenn schon Augenkontakt verboten war, dann konnte ich auch mit luftgetrockneter Naturkrause herumrennen und ein bisschen an Schauspielerin Charlize Theron in „Monster“ erinnern. Ich begann immer mehr Details wahrzunehmen. Ein Schild etwa mit: „Die Frauenzone endet hier“. Überall Beschränkungen, Beschränkungen, Beschränkungen. Nur nicht zu weit davon galoppieren, in Gedanken wie auch im realen Leben. 

Tag 6: Ich konnte erstmal alle Körperteile vibrieren spüren. Nicht stark, aber immerhin. Auch der von Blasen- und sonstigen Entzündungen geplagte Unterleib meldete sich zuckend ins Leben zurück. Goenka predigte: „Ihr seid die Chirurgen eures Unterbewusstseins. Ihr schneidet mit dem Skalpell tief rein. Nehmt den Eiter raus, lasst euch nicht ablenken. Start again. Start again. Start again.“ Ich sah Licht am Ende des Tunnels und musste weinen. Im Zimmer griff ich zur Pinzette und operierte mir einen winzigen Glassplitter aus meinem Fuß, den hatte ich offenbar aus Wien mitgenommen, er hatte erst hier zu drücken begonnen.

Tag 7: Ich sehnte mich nach meinem Handy und einer Möglichkeit, mich mitzuteilen. Ich hatte die vergangenen Tage darüber nachgedacht, einer speziellen Person eine spezielle Nachricht zu schreiben. Das Handy war im Büro der Zentrumsleitung eingesperrt, die Tür wurde bewacht. Frustriert stopfte ich mir drei Schokoriegel auf einmal in meinem Zimmer in den Mund. Die Verpackung ließ ich ganz unten im Koffer verschwinden.

Tag 8: Ich begann zu realisieren, dass die spezielle Nachricht an die spezielle Person nichts bringen würde. Noch zwei Schokoriegel. Tränen. Start again. An der Wirbelsäule begann es zu kribbeln, so, als ob mir Energie einschießen würde. Hurra.

Tag 9: Traurig. Euphorisch. Beides zugleich. Zumindest meine Zehennägel sahen fabelhaft aus. 

 Tag 10: Frei! Frei! Frei! Frei von S.N. Goenka. Und von sonst so einigem.

Rettungsring. Symbolisch zu verstehen. Prince Harry war so einer für mich während des Vipassana-Seminars. Die Nagelfeile auch.

Mit Ende des Schweigegelübdes wurden die Nummern wieder zu Menschen, zu sehr gelösten, strahlenden, erleichterten Menschen, by the way. Ich glaube, ich habe noch nie so viele glücklicher Gesichter auf einmal gesehen. Und obwohl wir einander nicht kannten waren, erzählte plötzlich jeder jedem alles – und vor allem teilten wir die, teils sehr privaten, Beweggründe für Goenkas Knast.

Anh war Hardcore, sie hatte schon zehn Vipassana-Kurse hinter sich. Palm kam, um rauszufinden, was sie im Leben wollte.

Palm etwa, eine 32-jährige Thai, würde in zwei Monaten in Deutschland heiraten. Ihr Zukünftiger wünschte sich so schnell wie möglich Kinder, für sie war das kein Thema, sie wollte erstmal einen Job finden, Freunde gewinnen und sich ein Leben im fremden Land aufbauen. „Ich bin hierher zum Meditieren gekommen, um rauszufinden, was ICH will und was ICH brauche.“ Kurze Pause. Nachsatz. „Ich habe keine Ahnung, wie ich das meinem Liebsten beibringen soll.“ Lisa, eine feinsinnige Deutsche, 20 Jahre alt, wollte klären, ob sie nach acht Monaten des Reisens und absoluter Freiheit bereit für ihr altes Leben und ein Studium war oder nicht. Wir beide kannten die Antwort, die Frage war nur, wann sie sich traute, es sich auch einzugestehen. Elle aus den USA war nicht mehr happy in ihrem Job als Digitale Nomadin und Social Media Expertin. Also tat sie das, was man tut, wenn man nicht weiterweiß: Sie drückte die Stopp-Taste und begann unter Goenkas Leitung, sich die Birne rauszumeditieren. Und Anh, eine Ex-Finanzmanagerin aus Vietnam, war absoluter Profi. Sie hatte den Kurs bereits zehnmal besucht – ursprünglich um den Tod ihrer Eltern, Vater und Mutter war binnen weniger Monate gestorben, zu verarbeiten. „Ich war nur am Heulen, wir standen uns sehr nah. Gleichzeitig entwickelte ich Angst, dass meinen Mann und meinen Sohn sterben könnten und ich daran zerbreche“; erzählte sie mir. „Durch Vipassana habe ich Abnabelung gelernt. Alles ist vergänglich, man darf sich an nichts klammern, nicht an Liebe, nicht an Trauer.“ Lachender Nachsatz: „Demnächst fahre ich 30 Tage meditieren. Mein Sohn wird das Problem der Abnabelung später nicht haben, ich bin ja nie daheim.“

Was nimmst du von hier mit? Ich wand mich erst um eine Antwort, dann aber sprudelte es nur aus mir heraus.

„Und du?“, wurde ich gefragt. „Was nimmst du mit?“. Hmmm. Tja. Was nahm ich mit? Ich wand mich um eine Antwort, wollte erstmal meine Gedanken sortieren. Aber plötzlich sprudelte es aus mir heraus: „Ich schätze, ich habe begriffen, was mein wichtigster Auftrag in der nächsten Zeit ist: Ich muss netter zu mir zu sein. Ich bin in der Vergangenheit nicht immer nett gewesen zu meinem Körper, habe Belastungslimits ignoriert und dafür die Rechnung kassiert. Nachdem mein Stresszentrum im Unterleib sitzt, weiß ich eh schnell, wenn Feuer am Dach ist, ich hoffe, ich höre die Signale nun früher, die mein Körper sendet.“ Und ich schätze, der tote Goenka hatte mir auch ein bisschen die rosarote Brille abgenommen. Ich bin eine Träumerin, das war ich immer schon. Die Realität ohne Zuckerguss anzunehmen, ist nichts meins. Aber manchmal muss man wahrscheinlich wirklich ohne Verklärung und Hoffnung auf eine Situation schauen, auch wenn’s weh tut. Weil man erst dann Dinge loslassen kann, die nur in der Fantasie passend sind. 

An Tag 11 – zurück in der Welt, in der ich wieder Ich sein durfte – setze ich mich freiwillig im Lotussitz hin. Und höre in meinem Kopf: Start again. Start again. Start again. Ich atmete ein. Ich atmete aus. Ich lächelte. Und irgendwie vermisste ich den alten Goenka. Und seinen Singsang.

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