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Hoi An: Hilfe, ich bin im Work-Life-Paradies


„Könntest du dir vorstellen, länger in Hoi An zu bleiben?, hat meine Freundin Christiane mich gefragt, als wir es nach Wochen endlich wieder einmal schafften, uns via WhatsApp zu hören. 

„Absolut“, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen, während ich von meinem Balkonfenster aus beobachtete, wie die Sonne hinter den Palmen unterging und der Himmel orange, rot und pink glühte. 

 

Die Abendsonne von meinem Balkon in Hoi An aus. Es gibt schlechtere Aussichten.

 

An Christianes „Hmmmm“ konnte ich erkennen: Sie war nicht überzeugt. Wobei, das ist Christiane nie, wenn’s um den indo-asiatischen Raum geht. Jede ihrer Reisen gen Osten endete bisher in einem Desaster. In China bekam sie eine Suppe mit Maden serviert. Und sie schwört bis heute Stein und Bein, die Proteinbeilage sei nicht auf der Karte gestanden. Als in Shanghai ein Mann vor ihr in die Hocke ging, um auf offener Straße entspannt seinen Darm zu entleeren, war ihr der Appetit auf Land und Leute endgültig vergangen. Auch mit dem koreanischen Busan wurde sie nicht warm, nach ihrer Rückkehr beschrieb sie es als „die hässlichste Stadt der Welt.“ Und seit sie in Delhi Bekanntschaft mit dem Geschlechtsteil eines Exhibitionisten machte, ist auch Indien bei ihr untendurch. Ich glaube, die Arme hat einfach unterwegs viel Pech. Bei einer ihrer letzten Reisen plumpste der Aufzug eines Hotels flotte 20 Stockwerke in die Tiefe. Mit Christiane drin.

„Hoi An ist zauberhaft“, jubilierte ich, um ihr Asien vielleicht doch noch schmackhaft zu machen. Das 150.000 Einwohner Städtchen in Zentralvietnam gilt als das Venedig Indochinas – wegen des Kanals, der sich malerisch durch die Altstadt zieht. Wegen der verwitterten, 200 Jahre alten Häuser. Und dass abends unzählige Lampions die Straßen in ein sanft-romantisches Licht tauchen, habe ich das schon erwähnt?

 

Hoi An. Gelbe Häuser überall. Dazu Sonne am Himmel und im Herzen.

 

Enge Gassen. Viel Geschichte.

 

Der Kanal in Hoi An, der der Stadt den Namen „das Venedig Vietnams“ eingebracht hat.

 

Sogar an den Booten hängen Lampions. Nachts ist die ganze Stadt erleuchtet. Das Foto davon ist aber unbrauchbar. Ich bin die schlechteste Fotografin der Welt (kann nicht mit Blitz umgehen, sorry).

 

„Dann bleib dort. Denkst du nicht, das täte dir gut? Vielleicht hätte dann deine Rastlosigkeit ein Ende. Du suchst ja eigentlich nur ein Zuhause in tropisch warmen Gefilden, das du nach deinem Geschmack einrichten kannst. Und vielleicht findet sich, wenn du länger Halt machst, auch die Liebe.“

„In Hoi An regnet’s ab November drei Monate lang. Monsun-Zeit“, entgegnete ich und ignorierte den Rest von Christianes Kommentar. Die Liebe – nun ja, das würde ich so schnell nicht lösen können. Zufrieden seufzend kuschelte ich mich in mein Bett. Wieder ein Tag im Paradies vorbei. Call me a lucky bitch. 

Täglich kaufe ich neue Stoffe, die wenig später in Maxikleider verwandelt sind.

Seit zwei Wochen bin ich nun schon in hier und ich fühle mich wie in einem nicht enden wollenden Wachtraum, in dem sich die Vietnamesen – vor denen mich jeder gewarnt hat, weil sie angeblich Gauner sind – zauberhaft verhalten, das Essen großartig schmeckt und ich fast täglich neue Stoffe kaufe, die 24 Stunden später in Maxikleider verwandelt sind. Sieben Kleider habe ich bereits anfertigen lassen, der großen Schneiderdichte der Stadt sei Dank. Ich habe keine Ahnung, wo das gepäcktechnisch noch hinführen soll. Wenigstens hält mich das Arbeiten davon ab, noch mehr zu kaufen.

 

Mein neu entdecktes Hobby: Stoffe kaufen …

 

… und dann Schneiderinnen terrorisieren, daraus Maxikleider zu machen.

 

Hier sieht man übrigens das Modell „Das Kleid, das kein Bademantel sein will“, ich bin unbrauchbar als Designerin.

 

Aber ich kann nicht aufhören. Sieben Kleider sind es bis dato. Das Chaos in meinem Zimmer ist bitte zu ignorieren.

 

Ja, richtig gelesen. Ich arbeite nebenbei. Genauer gesagt schreibe ich Artikel für eine englische Website, die sich auf Hoi An-Stadttipps spezialisiert hat. Als Gegenleistung bekomme ich kostenlos die Unterkunft gestellt, das Ganze läuft unter „Volunteering“ und war von langer Hand geplant. Denn auf dieser Reise will ich nicht nur herumstreunen und mein Erspartes in Rekordzeit verblasen. Ich habe mir vorgenommen, hie und da ein bisschen tiefer einzutauchen, aber vor allem will ich mich nebenbei nützlich machen. 

Wenn man gewohnt ist, alleine zu reisen, wird man neurotisch und sozial inkompatibel.

Was in der Theorie vernünftig klingt, sorgte in der Praxis allerdings erstmal für Bauchweh. Soll heißen: Ich malte mir im Vorfeld die schlimmsten Szenarien aus, fantasierte von miesen Unterkünften und nervigen Volunteers, die sich wie Pfadfinder zusammenrotten, komische Lieder singen und unvorteilhafte Pluderhosen mit Elefantenprint tragen. Das Ganze schien prädestiniert für Lagerkoller meinerseits zu sein. Wenn man gewohnt ist, alleine zu reisen, wird man neurotisch und sozial inkompatibel. In meiner Panik arbeitete ich sogar mit der Besitzerin eines Boutique-Hotels in Hoi An einen Fluchtplan aus. „Sollte die Unterkunft nicht deinen Vorstellungen entsprechen, kommst du einfach hierher zurück, ich mache dir einen tollen Preis für drei Wochen“, gab sie mir mit auf den Weg. „15 Euro pro Tag, Frühstück inklusive.“ Ich fiel ihr um den Hals, die Frau war fantastisch.

Hatte ich wirklich die richtige Adresse? Das schien alles surreal.

Als das Taxi mich und meinen übergewichtigen Rollkoffer schließlich an der vereinbarten Adresse absetze, dachte ich erst, der Fahrer hätte sich an der Hausnummer geirrt. Eine Auffahrt mit Kopfsteinpflaster. Ein begrünter Innenhof mit Pool. Weiß getünchte Gebäude mit gepflegten Balkonen. Und ein geschmackvoll eingerichtetes Häuschen, das offenbar als Empfangshalle oder Rezeption diente. Letztere schien verwaist, niemand war zu sehen. Ich ließ mich auf einem Bänkchen nieder und rief am Smartphone meine E-Mails auf. Adresse? Korrekt. Auch mit Double-Check. Hmmm. 

Minuten später brauste ein Motorrad heran und ein junger Rockabilly – Tunnel im Ohrloch, kurze Hose, derbe Turnschuhe und T-Shirt – stieg ab. Travis. Mein Chef. Ein britischer Fotograf, der seit einem Jahr in Hoi An lebt und mit dem ich hin und her geschrieben hatte, um die Sache hier zu fixieren.

„Travis, was ist das hier? Ein Hotel!?“, fragte ich nach der Begrüßung verwirrt.
„Ja. Das Hotel ist derzeit nicht in Betrieb. Der Besitzer hat es für unbestimmte Zeit dicht gemacht, weil das Haus nebenan abgerissen werden soll. Der Staub, der Dreck, das wäre nicht gut fürs Geschäft. Er ist ein Freund der Website-Betreiber, er stellt es uns kostenlos zur Verfügung.“

Keiner weiß, wann die Abrissbirnen wirklich kommen.

„Aber hier ist kein Staub und Dreck. Das Haus nebenan steht noch.“

„Das ist Vietnam. Keiner weiß, wann die Abrissbirnen wirklich kommen. Das geht seit Monaten so.“

„Und alle freiwilligen Schreiber für die Website leben hier?“

„Ja“. Travis öffnete seinen Rucksack und warf mir einen Schlüssel zu. Nummer 207. Zweiter Stock. 30 Quadratmeter Einzelzimmer mit Glasdusche, Kühlschrank und Balkon. Dann deutete er in Richtung des Stiegenaufgangs: „Klopapier und Trinkwasser findest dort drüben, nimm dir, was du brauchst. Es gibt einen Hausmeister, Jim, er kümmert sich um den Pool und den Garten. Wenn du frische Handtücher willst, gibt er dir neue. Einmal pro Woche kommt eine Putzfee und überzieht die Betten neu.“

Anschließend führte er mich durch ein leeres Restaurant – „unser Raum für die Redaktionskonferenz, wir setzen uns einmal pro Woche zusammen“ – und verabschiedete sich mit: „Viel Spass und schön, dass du da bist.“

 

Mein neues Zuhause. Ein stillgelegtes Hotel. Ich nenne es mein persönliches Melrose Place. Ohne Intrigen.

 

Jim ist der Hausmeister. Er wieselt Tag und Nacht auf dem Anwesen herum und hält es in Schuss

Ich blieb verdutzt stehen. Das war’s? Viel Spass? Schön, dass du da bist? Offenbar. Travis war schon wieder abgezischt. Also schleppte ich meinen Koffer die Stufen zu meiner Luxuskemenate hinauf und atmete erstmal durch.

Bis heute kann ich nicht so recht glauben, hier gelandet zu sein. Ich fühle mich wie in der 1990er-TV-Serie „Melrose Place“, nur ohne Heather Locklear und ohne Intrigen. Derzeit residieren wir hier zu siebt. Das Hotel teile ich mir mit Nicholas und Erika, einem reizenden, jungen Pärchen aus Florida. Sie drehen Videos für die Website, lachen viel, grüßen immer und haben eine ähnliche Aversion gegen Elefanten-Pluderhosen wie ich. Peter, ein Mittfünfziger und Australier, bewohnt das Zimmer einen Stock über mir. Er ist seit vier Jahren auf Reisen, Hoi An ist seine 40.(!) Freiwilligen-Stelle, Ich mag ihn, Peter redet nicht viel und bleibt am liebsten für sich. Und dann ist da noch Ellie, eine Koreanerin. Sie macht Übersetzungen, ist seit elf Monaten auf Reisen und die einzige Asiatin, die ich kenne, die gerne in der Sonne brät. Ellie würde auch als hawaiianische Prinzessin durchgehen, so tiefengebräunt wie sie ist. Wenn wir an den Strand fahren, bestellt sie sich als erstes ein Bier. Ach ja, ein vietnamesisches Pärchen mit Bulldoggen-Welpen gibt es auch noch. Die schreiben aber nicht. Sie sind mit dem Hotelbesitzer befreundet und genießen ebenfalls die Freuden der Gratis-Unterkunft.

 

Der Hidden Beach in Hoi An.

 

Kurz vor Dämmerung kommen die Einheimischen, um zu schwimmen – und zu essen. (Eh klar).

Man kann Kontakt zueinander halten, muss aber nicht. Das kommt mir sehr entgegen. Neulich haben wir abends ein paar Flaschen Wein geleert und sind dann von meinem Balkon in den Pool gesprungen. Hausmeister Jim war nur semi-begeistert von der Aktion. Nicht etwa, weil er ein strenger Geselle wäre. Jim ist entspannt. Er hat auch nichts dagegen, wenn man Herrenbesuch zum Übernachten mitbringt. Ich glaube, er fürchtet eher, dass wir uns irgendwann beim Hechten vom Balkon die Zähne ausschlagen und er dann mit unserem weinerlichen Gejammer leben muss. 

 Mein Badezimmer ist dreimal größer als mein Bad daheim es war. Dass ich es seit drei Tagen nicht wirklich benutzen kann, weil aus dem Hahn kein Wasser mehr kommt, Schwamm drüber. Das ganze Viertel kämpft mit Wasserknappheit, die Sommer hier sind zu lange und zu heiß, die Speicher der Stadt sind leer. Also spüle ich die Toilette mit Wasser aus dem Pool. Und dusche in dem einzigen Zimmer, das noch Wasser hat. Jim lacht immer, wenn er mich im Bademantel durchs Hotel wandern sieht. Er gießt dabei die Blumen. Keine Ahnung, woher er dieses Wasser hat. Vielleicht will er einfach auch nur testen, aus welchem Holz wir geschnitzt sind.

Zum Strand sind es fünf Kilometer. Der Weg mit dem Fahrrad führt durch Reisfelder.

Ich kann tun und lassen, was ich will. Und arbeiten, wie ich will. Einen Artikel pro Woche muss ich abliefern, das war’s. Große Stories, 2.000 Worte lang und alles auf Englisch, meistens arbeite ich zwei Tage durch, um die Pflicht erledigt zu haben, und zur Kür überzugehen. Zum Strand – einem pulvrig, weißen Werbetraum – sind es fünf Kilometer, der Weg mit dem Fahrrad führt durch Reisfelder. Es ist so kitschig, das ich immer ganz beseelt grinsend dort ankomme. Ich glaube, ich will von hier nicht weg. 

Zumal mir mein Aufenthalt in Hoi An endlich Zeit gibt, über Vietnam zu reflektieren. Das Land ist ein verrückter, wilder Kosmos, der meinem Hirn viel Futter gibt. Und wo wir schon dabei sind, meinen Magen nährt es auch. Das Essen hier ist großartig. Ein Schlaraffenland. Wenn ich mich morgens aus dem Bett rolle, weiß ich nicht, was ich mir zuerst einverleiben soll. Banh Mi, eines der knackig frischen Baguettes mit Salat, frischen Kräutern, Hühnerfleisch, Avocado und Fleischsauce? Pho, die deftige Nudelsuppe, die hier jeder zum Frühstück isst? Die vietnamesischen Pancakes mit Shrimps? Oder doch lieber Mi Quang, die lokale Spezialität aus Hoi An, gelbe Reisnudeln mit Fleisch, Brühe, Kräutern und Wachteleiern? Dass die Vietnamesen sogar einen Gott fürs Essen haben – Ong Tao, den Küchengott – passt da nur ins Bild. Er ist dick und rund und trägt eine offene Robe, die seinen wohlgenährte Wampe kaum zu verhüllen mag. Ich fürchte, ich teile bald das selbe Schicksal. Vor allem, wenn ich weiter Kakao mit Ei löffle. Die Vietnamesen lieben Egg Coffee, sprich Kaffee, der mit einer aufgeschlagenen Creme aus rohem Eidotter, Kondensmilch und Zucker versehen ist. Ich mag keinen Kaffee. Aber Egg Cacao oder Egg Cola (abartig süß und abartig geil) schmeckt großartig. One minute on your lips, forever on your hips. Der Spruch stimmt leider. 

 

Banh Mi. Des Vietnamesen liebstes Sandwich.

 

Egg Cacao und Reispudding mit Kokosmilch. Man rolle mich bitte aus diesem Land.

 

Seafood Orgie.

Nur bei einer Sache passe ich kulinarisch: Hunde. Wobei, die verspeist man hier offenbar eh nur zu speziellen Anlässen. „Mein Onkel hatte Krebs, da hat man ihm viel Hund gegeben, weil diesem Fleisch nachgesagt wird, dass es Kraft spendet“, hat Anh, eine junge Vietnamesin mir fast schamhaft geflüstert. Von ihr habe ich noch so einige Kuriositäten gelernt: Vietnamesische Omas schwören etwa auf getrocknete Grapefruit-Schalen als wachstumsfördernde Haarkur. Sie schnippeln die Schalen klein, kochen sie in Wasser aus, um die Aromaöle zu lösen und spülen dann die Haare damit. Ich kann es kaum erwarten, bei meinem nächsten Stopp, in Korea wieder eine Küche zu haben und das Hexenwerk auszuprobieren. Meine matten, splissgeplagten Flusen könnten definitiv einen Kick gebrauchen. 

Und seit Anh überlege ich mir auch, ein bisschen aufmerksamer in Sachen Ahnen-Ehrerbietung zu sein. In Vietnam sind die Großeltern und Urgroßeltern mehr oder weniger heilig. Auch wenn eine Familie nicht buddhistisch oder gläubig ist, fast alle Vietnamesen errichten im schönsten Raum des Hauses einen Schrein für ihre Verstorbenen. Dort sind Fotos von Oma und Opa aufgestellt, ihnen werden tägliche Opfergaben dargebracht. Mangos. Bier. Zigaretten. Was die lieben Leute bei Lebzeiten eben gerne mochten. „Deine Wurzeln sind deine Zukunft, sie machen dich stark“ hat Anh mir eingebleut und mich gleichzeitig vom Gehsteig wegzogen, wo ich drauf und dran war, mir an einem Mini-Ofen die nackten Waden zu verbrennen. Auf der Straße findet man oft kleine Schreine. Zu speziellen Mondzeiten werden aufwändig gefertigte Häuser, Autos, Handies aus Papier verbrannt, um den Verstorbenen ein komfortables Leben im Jenseits zu bieten.  Manche Vietnamesen verschulden sich sogar für die Papierkunstwerke für die Ahnen. 

 

Ein Schrein vor einer Schneiderei.

 

„Ich will das auch“, habe ich zu Anh gesagt. „Ich hätte gerne, dass man mir später Chanel-Handtaschen aus Papier und Gummibären ins Jenseits schickt.“ – „Dafür musst du erstmal Kinder haben, die dich nach deinem Tod ehren,“ meinte Anh trocken. – „Ach, sei nicht so verdammt realistisch“, lachte ich. Und überlegte wirklich in Hoi An zu bleiben. Vielleicht hatte Christiane ja Recht und es wäre gut für mich und meine künftige Anbetung. 

 

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